Übertherapie bei Krebs
Die 48jährige Annette, Mutter zweier Söhne, vertrug die ersten beiden Chemotherapien gegen ihr Bronchialkarzinom schlecht. Unter einer Drittlinientherapie besserten sich zwar die Tumormarker. Schmerzen, Übelkeit und vor allem die Ängste um die weitere Versorgung ihrer beiden Buben überforderten sie. Es kam zur Kachexie, trotz intaktem Speiseweg lief künstliche Ernährung. Es folgten Fatigue, Bettlägerigkeit und Druckgeschwüre. Die weiter verabreichten Zytostatika führten zu anhaltender Übelkeit. Es kam zu vielerlei Komplikationen. Im Gespräch mit dem Hausarzt fasst der behandelnde Onkologe die Situation treffend zusammen: „Eine Fortsetzung der Chemotherapie ist nicht mehr sinnvoll.“ Dennoch bestellt er Annette für den Folgetag in das Tumorzentrum und beginnt mit einer weiteren Chemotherapie. In elendem Zustand wird sie nach Hause entlassen. Noch in der gleichen Nacht tritt eine Schmerzkrise mit akuter Atemnot ein. Das einzige, was man Annette und dem Ehemann für solche Situationen vonseiten des Tumorzentrums sagte: „Dann kommen Sie zurück zu uns.“ Der verständigte Notarzt stellt den Kontakt zum Palliativnetz her. Unter guter Symptomkontrolle stirbt Annette am nächsten Morgen im Beisein ihres Mannes. Die beiden Jungs waren in der Schule.
Fehlanreize führen zur Fehlversorgung
Ein extremer Fall – gewiss – aber im Grunde keine Ausnahme: Drei Viertel der jungen Krebsbetroffenen erhalten in den letzten 30 Lebenstagen eine „zu aggressive Therapie“,[i] 60% in den letzten 2 Lebensmonaten sogar noch Chemotherapie. [ii] Der Sinn dieser Behandlung wurde jüngst untersucht, die Studienleiterin Holly Priggerson fasst zusammen: „Chemotherapie nutzte den Patienten nichts, egal wie sehr sie ihre Krebserkrankung schon beeinträchtigt hatte. Bei Patienten, denen es noch vergleichsweise gut ging, verschlechterte sich das Befinden nach Beginn der Behandlung„.[iii]
Die Auswertung der Daten einer großen deutschen Universitätsklinik weist
darauf hini, dass Krebsbetroffene noch in den letzten Lebenstagen zuhauf
Übertherapie erhalten. Wie die Daten belegen fanden Chemotherapie,
Blutwäsche, Operationen, Intensivbehandlung, ja sogar
Wiederbelebungen bei den sterbenden Krebskranken häufig statt. Die
Chance überhaupt das Krankenhaus lebend zu verlassen liegt bei letzteren
gar nur bei 6,2%. Etwa jeder 3. starb dann auch auf der Intensivstation
(Tab 1).
Die notwendige Palliativversorgung erhielt dagegen nicht einmal jeder
Dritte der 532 ausgewerteten Patienten. Die Mehrheit von diesen sah den
Palliativarzt nur noch für wenige Tage. Nicht einmal 2% wurden mehr als
20 Tage leidenslindernd versorgt. Die Zahlen belegen den katastrophalen
Umgang mit Sterbenskranken, sagt Palliativarzt Dr. Matthias Thöns aus
Witten, der ein Buch gegen Übertherapie am Lebensende veröffentlichte
(Patient ohne Verfügung, Piper Verlagii), für das er „in die Mangel
genommen wurde“.iii
Krebspatienten haben grundsätzlich viele belastende Beschwerden,
Ängste und Nöte, nicht erst in fortgeschrittenen Krankheitsstadien. So ist
es seit Jahren unumstritten, dass sie möglichst bald eine Mitversorgung
durch Palliativteams erhalten sollten. Hierzu gibt es amerikanischeiv, wie
auch europäischev Grundsatzempfehlungen.
Frühzeitige Palliativversorgung – also die umfassende Leidenslinderung
bereits bei Feststellung einer lebensbegrenzenden Erkrankung – hat viele
Vorteilevi: Lebensqualität von Patient und Familievii, Stimmungviii,
Krankheitsverständnis, Vorsorge und sogar Überlebenix bessern sich.
Palliativversorgung führt zu einer geringeren Krankheitslast, weniger
Chemotherapie in den letzten Lebensmonatenx, zu selteneren
Notarzteinsätzen und weniger und kürzeren Krankenhausaufenthalten.xi
So wird mittlerweile seit Jahren empfohlen, Krebskranke frühzeitig in die
Palliativversorgung einzubinden.xii Damit sinken nachweislich Kosten aber
eben auch die Gewinne der Krebsmedizin. Ob es da ein Zufall ist, dass
dieses Kriterium nicht in die deutschen Zertifizierungsregeln von
Krebszentren aufgenommen wurde? Thöns diesbezüglicher Vorschlag
wurde 2013 in einer Mail von einem Fachgebietspräsidenten abgebügelt
und auf „Freiwilligkeit“ verwiesen: Freiwillig auf Pfründe verzichten? Bis
heute jedenfalls wird Palliativversorgung fehlerhaft als „Medizin für die
letzten Lebenstage“ verstanden, wie die Daten der aktuellen Studie
belegen.
Chemotherapie am Lebensende ist umstritten
Einer Arbeit aus 2015 zufolge ist Chemotherapie aber bereits im
mutmaßlich letzten Lebenshalbjahr zu vermeiden. Sie kann nur helfen,
wenn der Patient sie verträgt und er noch mehrere Lebensmonate
erwarten darf. Denn eine mögliche positive Wirkung setzt erst nach
längerer Zeit ein. Kurzum: Chemotherapie in der allerletzten Lebensphase
hat keinen Sinn.xiii Die Autoren schreiben wörtlich: „Die Kosten einmal
beiseitegelassen, finden wir, dass die letzten sechs Lebensmonate nicht mit
einer Krebsbehandlung verbracht werden sollten […] Wir sollten dazu
beitragen, dass Patienten mit metastasiertem Krebs in dieser traurigen
und oft ausweglosen Situation gute Entscheidungen treffen.“
Teure Therapie
War die Therapie bei Darmkrebs in den 1990er Jahren noch mit
umgerechnet durchschnittlich rund 6.000 Euro inklusive der Klinikkosten
vergleichsweise günstig, so liegen heute allein die Kosten der
Medikamente schnell bei 150.000 Euro pro Patient. Dabei sind
Jahrestherapiekosten von 100.000 Euro für ein einzelnes Präparat keine
Seltenheit, etwa für Ipilimumab. Das Medikament gegen den schwarzen
Hautkrebs hat die Zulassung bekommen, weil es die Überlebenszeit im
Schnitt von sechseinhalb auf zehn Monate verlängerte.xiv Unter
„Zulassung“ ist dabei zu verstehen, dass die Kassen das bezahlen müssen,
was sich die Pharmaindustrie ausdenkt. Dabei interessiert sich niemand
ernsthaft für die Tatsache, dass die gleiche Medizin in unseren
Nachbarländern deutlich billiger zu haben ist. In Deutschland etwa ist
Pemetrexed, ein Medikament gegen Lungenkrebs, mehr als doppelt so
teuer wie in Griechenland. Spitzenreiter der Untersuchung ist allerdings
das Brustkrebsmedikament Gemcitabin, das in einigen Ländern vier Mal so
teuer verkauft wird, wie in anderen.xv
Der „Arzneimittelbrief“, eine unabhängige Arzneimittelzeitung, hat
verschiedene Studien zu neu zugelassenen Krebsmedikamenten sorgsam
analysiertxvi und kam zu einem ernüchternden Ergebnis: Weniger als ein
Drittel der Medikamente wurde aufgrund einer verbesserten
Überlebenszeit zugelassen.
Wie dies teilweise aussieht sei an einem Beispiel erläutert.
In Zulassungsstudien zur Behandlung des Bauchspeicheldrüsenkrebs
wurde dem Wirkstoff Erlotinib in der Tat eine Verlängerung der
Überlebenszeit attestiert: von 5,93 Monaten ohne auf 6,34 Monate mit
Erlotinib im Behandlungsprogramm. 0,4 Monate, das sind im Schnitt zwölf
Lebenstage. Die gibt es statistisch natürlich nur für den, der die
nebenwirkungsreiche Medizin 6 Monate brav einnimmt. Ein positiver
Einfluss auf die Lebensqualität ließ sich in den Studien nicht nachweisen.
Im Gegenteil: Behandelte Patienten klagten häufiger über Durchfall und
sogar häufiger über schwerwiegende unerwünschte Wirkungen. Selbst der
Tod von fünf Patienten in dieser Untersuchung wird auf Nebenwirkungen
zurückgeführt.xvii Mit dem Medikament werden Millionen verdient.
Über die Gründe für diese unglückliche Verteilung kann nur spekuliert
werden. Hier sei das Augenmerk aber einmal auf die Vergütung gerichtet.
Während für eine Beatmung bei bestimmten Diagnosen ab 24 Stunden
23426 € erlöst werden, gibt es für eine mehr als 3
wöchige „Palliativmedizinische Komplexbehandlung“ aktuell gerade einmal
2318,21 € „Zusatzbudget“. Statistisch überspitzt formuliert, kann man mit
einer apparateintensiven Intensivtherapie von 2 ½ Stunden den gleichen
Erlös erzielen, wie für das Zusatzbudget einer 3 wöchigen
zuwendungsintensiven Palliativversorgung bezahlt wird.
Die Zahlen der Untersuchung schmeicheln der deutschen Krebsmedizin
nicht. Ob es da ein Wunder ist, dass sie eher in einer unbedeutenden
amerikanischen Krebszeitschrift zu finden sind und es mehr als 3 Jahre
dauerte, bis die Publikation erschien? Und ans Licht der Öffentlichkeit
gelangten die Zahlen seit 2 Monaten nicht – noch nicht.
Tab 1: Anteil Patienten innerhalb der letzten Lebenswoche /
Lebensmonat
- Chemotherapie (7.7%/38.3%)
- Bestrahlung (2.6%/6.4%)
- Wiederbelebung (8.5%/10.5%)
- OP (15.2%/31.0%)
- Dialyse (12.0%/16.9%)
- Bluttransfusion (21.2%/39.5%)
- CT (33.8%/60.9%).
- Tod auf der Intensivstation: 30,3%
Palliativversorgung 30,3%, davon mehr als Hälfte weniger als einWoche
(54%). Nur 1,9% der Patienten wurden mehr als 20 Tage palliativ betreut.
Im Schnitt waren die Verstorbenen 66,8 Jahre alt.
Oft wirkungslose Therapie?
Bei Markteinführung bewirkten nur 35% der Krebsmedikamente eine Lebensverlängerung, so die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) Ende 2017. Diese betrug im Mittel dann auch nur 2,7 Monate! Nur 10% der neuen Medikamente verbesserte auch die Lebensqualität. In der Nachbeobachtung durch die EMA führten etwa die Hälfte der Medikamente zu einer Lebensverlängerung, diese war aber zur Hälfte dann unbedeutend. Trotzdem werden für diese neuen Medikamente im Schnitt über 100.000 € pro Patient im Jahr bezahlt, Arzt – Apotheker und vor allem die Pharmaindustrie profitieren deutlich, mit 10% Lebensqualitätsverbesserung muss man schon ganz schön viel Glück haben, dass man als Patient zu den Gewinnern gehört – die Mehrheit wird „hochpreisig fehlbehandelt“ mit unkalkulierbaren Nebenwirkungen und nicht belegter Wirkung (link zur Studie aus 10/2017).
Hintergrund zur Übertherapie
Das Buch Patient ohne Verfügung – Das Geschäft mit dem Lebensende
(Piper Verlag, 8. Aufl. 2017) kritisiert die Übertherapie am Lebensende und
diente kürzlich als Grundlage für einen Beitrag in ZDF Mann, Sieber: „Wer
kriegt die Omi“xviii: Dort wird eine Quizshow simuliert. Der besorgte Sohn
einer Sterbenden „spielt“ gegen einen übertherapierenden Chefarzt. Der
Sohn möchte die Sterbende gehen lassen, da erwidert der Chefarzt: „Ha –
wo bleibt denn da die Ethik – Lebende versorgen – das kann ja jeder, aber
eine Sterbende beatmen – das ist wahrer Dienst am Menschen“. Der Sohn
„Sie meinen Verdienst“. Der Moderator fasst zusammen: „Damit steht
eines fest, sterben wird die Omi in diesem Leben nicht mehr“. Die
Gesichte fußt in dem abgewandelten Kennedy-Zitat: „Frage nicht, was
Dein Krankenhaus für Dich tun kann, frage, was Du für Dein Krankenhaus
tun kannst.“.
Kontakt: Piper Verlag, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit,
Email: eva.brenndoerfer@piper.de
Im Ärzteblatt vom 21.05.2018 erscheint ein Artikel hochangesehener Krebsmediziner über Krebs mit unbekanntem Ursprung, eine Erkrankung, die nur ein Fünftel mehr als 2 Jahre überlebt, im Durchschnitt lebt man nach Diagnose etwa noch ein gutes halbes Jahr – ob nun mit oder ohne Therapie. Die „Experten“, die größtenteils „Interessenkonflikte“ (sprich man bekommt Kohle von der Pharmaindustrie) angeben, empfehlen Chemotherapie mit schlimmen Nebenwirkungen, darüber hinaus auch höchstpreisige Chemotherapie. Ob Patienten davon einen Nutzen haben, ist unklar oder unbelegt, einen Schaden haben sie durch Nebenwirkungen ziemlich sicher.
Für die Erkrankung muss statt dessen bei Diagnosestellung Palliativversorgung mit angeboten werden, so wird es international empfohlen. Das aber wird im Artikel „vergessen“ oder in der Antwort auf meinen Leserbrief wird geschrieben: „Für uns ist es eine Selbstverständlichkeit, bei Patienten mit einem fortgeschrittenen Tumorleiden und so auch beim fortgeschrittenen CUP-Syndrom, immer auch allgemeine palliativmedizinische Maßnahmen in Betracht zu ziehen. Und natürlich muss beim weit fortgeschrittenen CUP-Syndrom auch mit dem Patienten über rein palliative Behandlungsmaßnahmen im Sinne von „best supportive care‘‘ diskutiert werden, sofern keine sinnvollen Behandlungsoptionen mehr bestehen, aber auch nur dann.“ In der Realität der Versorgung glänzt diese Klinik allerdings mit sehr viel Chemotherapie (o.ä.) und fehlender (frühzeitiger) Einbindung von Palliativversorgung. (link)
Literatur:
i Dasch B, Kalies H, Feddersen B, Ruderer C, Hiddemann W, Bausewein C: Care of cancer patients at
the end of life in a German university hospital: A retrospective observational study from 2014. PLoS One.
2017 Apr 6;12(4):e0175124. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/28384214
ii Thöns M: Patient ohne Verfügung. Das Geschäft mit dem Lebensende. Piper 8. Aufl. 2017
iii https://www.derwesten.de/staedte/witten/aerzte-nehmen-kritiker-thoens-in-die-mangel-id12198173.html
iv American Society of Clinical Oncology (ASCO): Integration of Palliative Care Into Standard Oncology
Care. American Society of Clinical Oncology Clinical Practice Guideline Update. http://www.asco.org/
practice-guidelines/quality-guidelines/guidelines/patient-and-survivor-care#/9671
v Cherny N, Catane R, Schrijvers D, Koke M, Strasser F. European Society for Medical Oncology (ESMO).
Program for the integration of oncology and Palliative Care: A 5-year review of the Designated Centers‘
incentive program. Ann Oncol. 2010; 21: 362±9. https://doi.org/10.1093/annonc/mdp318 PMID: 19654197
vi Arbeitsgemeinschaft der Medizinisch-Wissenschaftlichen Fachgesellschaften±AWMF.
Leitlinienprogramm
Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF). Palliativmedizin fuÈ r
Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung. Langversion 1.0, 2015: AWMF-Registernummer:
128/001OL; http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/128-001OLl_S3_Palliativmedizin_2015-07
vii Zimmermann C, Swami N, Krzyzanowska M, et al. Early palliative care for patients with advanced
cancer: a cluster-randomised controlled trial. Lancet 2014;383:1721-30
viii Pirl WF, Greer JA, Traeger L, Jackson V, Lennes IT, Gallagher ER, Perez-Cruz P, Heist RS, Temel
JS.: Depression and survival in metastatic non-small-cell lung cancer: effects of early palliative care. J
Clin Oncol. 2012 Apr 20;30(12):1310-5
ix Bakitas M, Tosteson T, Lyons K, Dragnec K, Hegel M, Azuero A. Early Versus Delayed Initiation of
Concurrent Palliative Oncology Care: Patient Outcomes in the ENABLE III Randomized Controlled Trial. J
Clin Oncol 2015;33
x Temel JS, Greer JA, Muzikansky A, et al. Early palliative care for patients with metastatic non-small-cell
lung cancer. The New England journal of medicine 2010;363:733-42
xi Gärtner J, Wedding U, Alt-Epping, B: Frühzeitige spezialisierte palliativmedizinische Mitbehandlung. Z
Palliativmed 17 (2016) 83-93
xii Smith TJ, Temin S, Alesi ER, Abernethy AP, Balboni TA, Basch EM, Ferrell BR, Loscalzo M, Meier DE,
Paice JA, Peppercorn JM, Somerfield M, Stovall E, Von Roenn JH: American Society of Clinical Oncology
provisional clinical opinion: the integration of palliative care into standard oncology care. J Clin Oncol.
2012 Mar 10;30(8):880-7
xiii Priggerson et al: Chemotherapy Use, Performance Status, and Quality of Life at the End of Life. JAMA
Oncol. doi:10.1001/jamaoncol.2015.2378 Published online July 23, 2015
xiv Melanom: Lebensverlängerung mit zwei neuen Medikamenten. Deutsches Ärzteblatt 06.06.2011; im
Internet (Zugriff am 01.06.2016) unter www.aerzteblatt.de/nachrichten/46123
xv Volger, S, Vitry A, Din Babar Z: Cancer drugs in 16 European countries, Australia, and New Zealand: a
cross-country price comparison study. Lancet oncolog 2015 ; im Internet (Zugriff am 01.06.2016) unter
www.researchgate.net/publication/285591627_Cancer_drugs_in_16_European_countries_Australia_and_
New_Zealand_A_cross-country_price_comparison_study
xvi Arzneimittelbrief 2015, 49, 40DB01
xvii Arzneitelegramm 02/2008: Erlotinib bei Pancreaskarzinom. im Internet (Zugriff am 01.06.2016) unter
www.arznei-telegramm.de/html/2008_02/0802022_02.html
xviii https://www.zdf.de/comedy/mann-sieber/mann-sieber-clip-2-108.html
Fehlanreize müssen transparent gemacht und abgebaut werden.
Das Übertherapieproblem wächst seit Anfang des Jahrtausends zu dem Hauptproblem in der Versorgung Sterbender heran. Seitdem wurde das wirtschaftliche Risiko der Kliniken durch eine Änderung des Abrechnungsmodus auf die Klinikleitungen übertragen. Während früher die Kliniken anhand der Verweildauern das Kostendeckungsprinzip galt, wird durch das neue DRG-System (diagnosis related groups) auf der Basis von Diagnose und Prozedur ein Entgelt bestimmt: je schlimmer die Krankheit und je technischer der Eingriff, desto höher der Erlös. Über Bonusverträge werden leitende Ärzte an lukrativen Eingriffen oder am Klinikgewinn beteiligt. Freiwillige Selbstkontrolle greift nicht. Obgleich Boni von Ärztetag zu Ärztetag kritisiert werden und der Gesetzgeber[ix] auf Verzicht dieser Klauseln drängt, gibt die Unternehmensberatung Kienbaum an: 2015 fanden sich in 97% der untersuchten Chefarztverträge entsprechende Geldanreize.[x]
Da entsteht ein hoher Fehlanreiz bei Sterbenskranken möglichst umfangreiche Eingriffe durchzuführen. Mittlerweile schätzen namhafte Experten, dass die Hälfte der Sterbenden Opfer von Übertherapie sind.[xi] Das bestätigt eine aktuelle Untersuchung: Bis zu 50% der Patienten erhalten nicht indizierte Untersuchungen, 28% der Sterbenden werden gar reanimiert[xii]. Sie sind oft nicht mehr in der Lage, ihren Willen kundzutun oder zu widersprechen.
In den Therapieleitlinien der Arbeitsgemeinschaft für Gynäkologische Onkologie (AGO) wird Bevacizumab bei Brustkrebs empfohlen. International wird das für nicht sinnvoll gehalten, so etwa das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) in GB. Die US Food and Drug Administration hat gar hier die Zulassung entzogen.[i] In Deutschland läuft die Behandlung weiter, die AGO wird vom Hersteller von Bevacizumab gesponsert.
In Südkorea wurde die Krebsvorsorge per Ultraschall eine Zeit lang 15 Mal häufiger durchgeführt. Die Sterblichkeit von Schilddrüsenkrebs hat sich dadurch nicht vermindert, dagegen kam es zu einer wahrlichen „Krebsepidemie“. 99,7% dieser Diagnosen wurden als Fehldiagnosen eingeschätzt. Die Patienten erhielten entsprechend häufig eine gefährliche und schädliche Übertherapie.[ii]
[i] Guerrero R, Amaris A. Financing cancer care and control: lessons from Colombia. 2011. http://isites.harvard.edu/fs/docs/icb.
MA, USA
[ii] Ahn HS, Kim HJ, Welch HG. Korea’s thyroid-cancer “epidemic” screening and overdiagnosis. New Engl J Med 2014; 371: 1765–67
[i] Chen RC, Falchook AD, Tian F (2016): Aggressive care at the end-of-life for younger patients with cancer: Impact of ASCO’s Choosing Wisely campaign. Clin Oncol 34, suppl; abstr LBA10033)
[ii] Rabow MW (2014): Chemotherapy near the end of life. BMJ. 348, p1529
[iii] Prigerson HG, Bao Y, Shah MA, Paulk ME, LeBlanc TW, Schneider BJ, Garrido MM, Reid MC, Berlin DA, Adelson KB, Neugut AI, Maciejewski PK (2015): Chemotherapy Use, Performance Status, and Quality of Life at the End of Life. JAMA Oncol. 10.1001 p 2378
[iv] Correctiv (2016): Euros für Ärzte: Die Scheinforscher. correctiv.org/recherchen/euros-fuer-aerzte/artikel/2016/03/09/die-schein-forscher/
[v] Wiesing U (2013): „Ärztliches Handeln zwischen Berufsethos und Ökonomisierung. Das Beispiel der Verträge mit leitenden Klinikärztinnen und -ärzten“. Deutsches Ärzteblatt 38, p A-1752
[vi] Bertelsmann Stiftung (2015): Faktencheck regionale Unterschiede 2015. https://faktencheck-gesundheit.de/de/faktenchecks/regionale-unterschiede/ergebnis-ueberblick/
[vii] Deutscher Ethikrat (2016): Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus; im Internet unter www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-patientenwohl-als-ethischer-massstab-fuer-das-krankenhaus.pdf
[viii] DGIM (2015): Der Patient ist kein Kunde, das Krankenhaus kein Wirtschaftsunternehmen. DMW 07/2015 http://www.dgim.de/portals/pdf/Positionspapier_Schumm-Draeger_%C3%96konomisierung.pdf
[ix] § 136a Sozialgesetzbuch V
[x] Medizinethik: Ökonomisches Denken darf nicht im Vordergrund stehen. Dt. Ärzteblatt. 113 (2016) 1078
[xi] Borasio GD: Faktencheck zur Sterbehilfe. Die Zeit vom 22.09.2015. im Internet (Zugriff am 01.06.2016) unter www.zeit.de/2015/38/bundestag-sterbehilfe-diskussion-gesetzesentwuerfe
[xii] Cardona-Morell M, Kim JCH, Turner RM, AnsteyM, Mitchell M, Mitchell IA, Hilman K (2106): Non-beneficial treatments in hospital at the end of life: a systematic review on extent of the problem. International Journal for Quality in Health Care, 2016, p 1–14
Dr. Cordona-Morell wertete international Studien mit insgesamt 1,2 Mio Patienten aus[i] und zeigte das Ausmaß, in welchem sterbenskranke Krebsbetroffene Übertherapie erhielten:
Demnach erhielten Sterbende:
- Aufnahme auf der Intensivstation 2-90% (MW 33,3%)
- Chemotherapie in den letzten Lebenswochen 3-76% (MW 33,0%)
- Reanimation 11-90% (MW 28,1%)
- Tod auf der Intensivstation 11-96% (MW 58,0%)
- Dialyse, Strahlentherapie, Transfusion 7-77% (MW 29,9%)
- kurative Arzneimittel 11-75% (MW 38%)
- unnötige Bildgebung 25%
- unnötige Blutuntersuchungen 37-49%
dagegen:
- zu selten Hospizversorgung
- zu selten vor der Intensivtherapie eine Visite durch einen Palliativarzt
- zu selten war der einer Wiederbelebung entgegenstehende Wille vermerkt
Die Behandlungen fanden statt, obgleich man den kommenden Herzstillstand voraussah, die Patienten im sehr schlechten Allgemeinzustand waren oder die Behandlungen niemals akzeptable Therapieziele für die Patienten hätten erreichen können.
Daneben fand man heraus, dass dagegen viel zu selten Hospizversorgung stattfand, Palliativmediziner vor einer Intensiveinweisung nicht zu Rate gezogen wurden und der einer Wiederbelebung entgegenstehende Wunsch des Patienten nicht dokumentiert war.
Es gibt nach wie vor eine Kultur des medizinisch Machbaren, selbst wenn dies gegen den erklärten Willen des Patienten erfolgt.
Es wird die unrealistische Erwartung „Überleben koste es was es wolle“ aufrechterhalten, obgleich dies die menschliche Würde missachtet und die Lebensqualität dramatisch verschlechtert.
Während die Autoren insbesondere bei Kostenerstattung von „finanziellen Fehlanreizen“ für die ungewünschte Übertherapie[ii] sprechen, berichten in den Studien die Ärzte selber über andere Ursachen für die Überbehandlung:
- Druck von der Familie
- Kommunikationsdefizite im Team
- Rechtliche Bedenken, wenn man nicht „alles tut“
- unterschiedliche Meinungen unter Spezialisten
Die Aufrechterhaltung falscher Hoffnungen, Unzufriedenheit der Mediziner bei schlechten Resultaten und Ungleichheiten im Einsetzen der begrenzten Ressourcen führen zu schlechter Versorgung am Lebensende.
Problem Anwendungsbeobachtungen:
Es handelt es sich dabei um Studien, die nach der Zulassung und Markteinführung eines Medikamenten durchgeführt werden. Der Arzt erhält dafür ein Honorar. Im Prinzip ist das eine gute Sache, gilt es doch, in der Praxis etwas über den Nutzen einer Neuerung zu erfahren. Das Problem liegt freilich darin, dass diese Erhebungen so gut wie nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Sie haben keinerlei Konsequenzen, und die Patienten wissen oft gar nicht, dass sie an einer solchen Studie teilnehmen.
„Das Geld wird aus wissenschaftlicher Sicht verschwendet“, sagt Prof. Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG). Die Ergebnisse von Anwendungsbeobachtungen würden eigentlich niemanden interessieren. Noch weit bedenklicher aber ist, dass das Honorar für den teilnehmenden Arzt oft in keinem angemessenen Verhältnis zu dem Aufwand steht.
Da verschreibt ein Arzt etwa ein hochpreisiges Medikament und erhält dafür, nach Ankreuzen einiger „Studienblätter“ (das macht dann meist noch sein Personal), ein sattes Honorar von im Schnitt 670 Euro pro Patient. Aber auch Beträge von über 7000 Euro pro Patient und Medikament recherchierten unabhängige Journalisten 2015.[ii] Jeder 10. Arzt macht mit, 2014 sind über 100 Mio. Euro an Honoraren geflossen. Die Krankenkasse zahlt die teuren Tabletten, der Arzt kassiert das Honorar und der Patient weiß nix davon.
Es kommt aber noch schlimmer. Natürlich ist wieder die Krebsmedizin betroffen.
So hat zum Beispiel der Pharmariese Roche in den vergangenen Jahren mindestens zehn Anwendungsbeobachtungen mit dem Krebsmedikament Avastin gemacht. Ärzte bekamen dafür bis zu 1.260 Euro Honorar pro Patient! Krebsspezialist Prof. Ludwig erläutert „Die einzige Indikation, bei der man Avastin mit einigermaßen gesicherten Erkenntnissen für einen patientenrelevanten Zusatznutzen einsetzen kann, ist Darmkrebs“. Doch die bezahlten „Studien“ erfolgten auch bei Brustkrebspatientinnen, bei Nieren- und Lungenkrebs. Professor Ludwig vermutet, „die ganzen Anwendungsbeobachtungen bei Avastin verfolgen vor allem den Zweck, die Ärzte zu motivieren, Avastin auch jenseits von Darmkrebs häufiger einzusetzen.“ Und das, „obwohl die Ergebnisse aus medizinischen Studien bei diesen Anwendungsgebieten wenig überzeugend sind“.
Hier ein Link zu einem Film von Panorama zu den Studien. (LINK)
[i]FAZ vom 01.10.2009: Pharmaindustrie zahlt für Anwendungsstudien. , im Internet (Zugriff am 01.06.2016) unter www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/pharmaindustrie-zahlt-fuer-anwendungsstudien-bis-zu-1000-euro-extra-fuer-den-doktor-1858134.html
[ii] Correctiv: Euros für Ärzte: Die Scheinforscher. correctiv.org/recherchen/euros-fuer-aerzte/artikel/2016/03/09/die-schein-forscher/
[i] Cardona-Morell M, Kim JCH, Turner RM, AnsteyM, Mitchell M, Mitchell IA, Hilman K: Non-beneficial treatments in hospital at the end of life: a systematic review on extent of the problem. International Journal for Quality in Health Care, 2016, 1–14
[ii] Malin JL, Weeks JC, Potosky AL et al. Medical oncologists’ perceptions of financial incentives in cancer care. J Clin Oncol 2013;31:530–5.
weitere Literatur: